Politische Bildung zur Stärkung der Demokratie

© DWIH São Paulo

Politische Bildung und eine freie Wissenschaft spielen eine zentrale Rolle für den Erhalt der Demokratie, reichen aber allein nicht aus, um die Gesellschaft zu schützen. Das ist die Bilanz der Podiumsdiskussion, die vom Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) São Paulo am 25. August während der 75. Jahrestagung der Brasilianischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft (SBPC) an der Bundesuniversität von Paraná (UFPR) veranstaltet wurde.

Die Diskussion zum Thema „Die Rolle von Bildung und Wissenschaft bei der Überwindung von Vorurteilen und Hass in Deutschland und Brasilien” brachte Fachleute aus beiden Ländern zusammen: Monika Oberle, Professorin für Politikwissenschaft und Didaktik der Politik an der Georg-August-Universität Göttingen und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb); Michel Gherman, Professor des Graduiertenprogramms für Sozialgeschichte an der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ); und Jochen Hellmann, Direktor des DWIH São Paulo und Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Brasilien. Das Gespräch fand unter der Leitung des SBPC-Vizepräsidenten Paulo Artaxo statt. 

Oberle wies auf drei Säulen der demokratischen Erziehung an deutschen Schulen hin, die ihrer Meinung nach auch für Brasilien als Basis dienen können: eine demokratiebasierte Schulkultur, ein interdisziplinäres pädagogisches Konzept und „Politische Bildung” als Sonderfach an den Schulen. 

„Die Aufgabe dieses Fachs besteht darin, über Konzepte wie Demokratie zu sprechen – nicht nur über Toleranz und gemeinsam gut Leben, sondern auch darüber, was rechtsstaatliche Demokratie bedeutet. Es geht mir nicht nur darum, Wissen und Institutionenkunde zu vermitteln, sondern auch Diskussionen zu moderieren, Kommentare zu bewerten und kritisch zu reflektieren”, betonte die Professorin. 

Diese politische Erziehung solle jedoch nicht zur Neutralität verpflichten: man könne sich gegenüber antidemokratischen Positionen nicht neutral verhalten, und Lehrkräfte sollten nicht unpolitisch sein, sondern als Vorbilder für demokratische Staatsbürger dienen. 

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Deutsche Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg 

Als Vertreter einer Institution, die den Austausch von Studierenden und Forschenden zwischen Deutschland und anderen Ländern weltweit fördert, griff Hellmann in seinem Vortrag eine Anregung des SBPC-Präsidenten Janine Ribeiro auf: Kann die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland angewandte Strategie, die Schuld für die durch den Nationalsozialismus verursachten Traumata anzuerkennen und aufzuarbeiten, als Beispiel für andere Länder dienen? 

„Die Alliierten [USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion] haben gute Arbeit geleistet und dabei teilweise drastische Maßnahmen ergriffen: zum Beispiel wurde die Bevölkerung in mehreren Städten, in denen es Konzentrationslager gab, sowie in Orten, in denen Menschen vermisst wurden, nach 1945 gezwungen, diese Konzentrationslager zu besichtigen, damit sie vor Ort sehen konnten, was dort passiert war und nicht sagen, sie hätten von alldem nichts gewusst”, erzählte Hellmann. 

Der Osten des Landes habe jedoch über weitere 40 Jahre unter einer Diktatur gelebt – erst 1990 sei Deutschland wiedervereinigt worden, und die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hätten weiterhin bestanden. Die Deutschen hätten also, so Hellmann, Erfahrungen mit zwei Diktaturen hinter sich (wobei natürlich klare Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus bestünden). „Aber bedeutet die Tatsache, dass wir Deutschen diese beiden Diktaturen in so kurzer Zeit durchlebt und überwunden haben, wirklich, dass wir jetzt dagegen immun sind, weil wir bereits diese Erfahrungen gemacht haben?“ 

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Bekämpfung des „Nazi-Vokabulars“ 

Die deutschen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus aufgreifend richtete Gherman den Fokus auf Brasilien und forderte, dass sich die Gesellschaft mit dem von ihm als „Nazi-Vokabular” bezeichneten Phänomen auseinandersetzen müsse, das seiner Meinung nach in Brasilien mit dem Aufkommen der extremen Rechten entstanden sei, und dem zufolge die Linke als Feind identifiziert, „dämonisiert” und „eliminiert“ werden müsse. Dieses Wortmaterial müsse mit einem „antifaschistischen Vokabular“ bekämpft werden, bekräftigte der Professor. 

Gherman, ehemaliges Mitglied einer Arbeitsgruppe des Ministeriums für Menschenrechte und Staatsbürgerschaft zur Bekämpfung von Hassreden und politischer Intoleranz, zitierte Daten aus einer Umfrage der amerikanisch-jüdischen Institution Anti-Defamation League zum Antisemitismus in Lateinamerika, deren Ergebnisse er als „sehr alarmierend“ bezeichnete. 

„Während sich im Jahr 2014 12% der Brasilianer als rechtsextrem betrachteten, ordneten sich im Jahr 2019 schon 23% der Brasilianer der extremen Rechten zu. Mehr noch: 2014 bezeichneten sich 12% als antisemitisch, 2019 waren es bereits 26%. Während im Jahr 2014 noch 12% der Brasilianer der Meinung waren, dass Adolf Hitler auch positive Eigenschaften gehabt habe, waren es im Jahr 2019 41%. Der Vertreter dieser Institution für Lateinamerika rief einige Forschende an und sagte: ,Ich habe den Eindruck, dass da in Brasilien gerade etwas passiert.’ Und uns hier war klar, was da passierte, nämlich das, was wir später als ‚Neonazismus-Epidemie‘ bezeichnen würden“, erinnerte sich Gherman. 

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