Wir müssen das in Brasilien anwachsende „Nazi-vokabular” bekämpfen, sagt Gherman

© DWIH São Paulo

Bei seiner Teilnahme an der Podiumsdiskussion „Die Rolle von Bildung und Wissenschaft bei der Überwindung von Vorurteilen und Hass in Deutschland und Brasilien”, die vom Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) São Paulo im Rahmen der 75. Jahrestagung der Brasilianischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft (SBPC) veranstaltet wurde, lenkte Michel Gherman, Professor des Graduiertenprogramms für Sozialgeschichte an der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ), die Aufmerksamkeit auf den zentralen Aspekt seines Vortrags: Mit dem Aufkommen der extremen Rechten ist in Brasilien ein „Nazi-Vokabular” entstanden, mit dem die Linke „dämonisiert” und als Feind identifiziert wird, der „eliminiert” werden muss.

Der Professor bekräftigte, dass im Land derzeit eine „Neonazismus-Epidemie” um sich greife, die von der Ultrarechten – vertreten durch den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro – angeheizt werde und von einer „Revolte gegen das Abstrakte” begleitet werde. Gherman, ehemaliges Mitglied einer Arbeitsgruppe des Ministeriums für Menschenrechte und Staatsbürgerschaft zur Bekämpfung von Hassreden und politischer Intoleranz, zitierte Daten aus einer Umfrage der amerikanisch-jüdischen Institution Anti-Defamation League zum Antisemitismus in Lateinamerika, deren Ergebnisse er als „sehr alarmierend“ bezeichnete.

„Während sich im Jahr 2014 12% der Brasilianer als rechtsextrem betrachteten, ordneten sich im Jahr 2019 schon 23% der Brasilianer der extremen Rechten zu. Mehr noch: 2014 bezeichneten sich 12% als antisemitisch, 2019 waren es bereits 26%. Während im Jahr 2014 noch 12% der Brasilianer der Meinung waren, dass Adolf Hitler auch positive Eigenschaften gehabt habe, waren es im Jahr 2019 bereits 41%. Der Vertreter dieser Institution für Lateinamerika rief einige Forscher an und sagte: ,Ich habe den Eindruck, dass da in Brasilien gerade etwas passiert.’ Und uns hier war klar, was da passierte, nämlich das, wofür wir wir später den Begriff ‚Neonazismus-Epidemie‘ geschaffen haben”, erinnerte sich Gherman.

In Brasilien sei die Pädagogik im Hinblick auf den Holocaust hauptsächlich von Gruppen entwickelt worden, die einen Bezug zu den Opfern des Nationalsozialismus haben, und sie sei „dramatisch gescheitert”. „Sie hat versäumt, in den Ereignissen, die sich vor unsren Augen abspielten, einen grundlegenden Wesenszug zu identifizieren, der uns meiner Meinung nach helfen würde, diese neue Logik des Neonazismus oder Post-Nazismus im Land besser zu verstehen. Es ist nicht die Logik der Dimension einer kohärenten, ideologischen Perspektive des Nationalsozialismus, sondern eher das, was [der nordamerikanische Ethnograph Benjamin] Teitelbaum als „Politik der Übereinstimmungen” bezeichnet – ein tiefes Ressentiment, das mit der Vorstellung arbeitet, dass die Zerstörung und nicht irgendein Wiederaufbauprojekt Brasilien die Erlösung bringen wird. Wir haben hier eine Nazi-Grammatik ohne nationalsozialistisch-ideologischen Bezug”, betonte der Professor.

Mit diesem Standpunkt versuche die extreme Rechte Brasiliens, durch das Schaffen gemeinsamer Hassziele Anhänger zu gewinnen. „[Der kanadische Historiker] Moishe Postone sagt, dass es sich bei dieser Ultrarechten tatsächlich um eine extreme Rechte handelt, die aus einer Rebellion gegen das Abstrakte entstanden ist. Es gibt keine Geschlechter-Debatte: es gibt zwei Geschlechter. Es gibt keine Möglichkeit, Menschenrechte aufzubauen: es gibt rechte Menschen. Es gibt keine Möglichkeit, Perspektiven zu konstruieren, wie es in den Geisteswissenschaften geschieht: nur die Grundlagendisziplinen sind solide. Abstraktion stellt eine Bedrohung für den guten Bürger dar. In diesem Sinne ist es eine Revolte gegen die Abstraktion, es ist die Aversion, die Sie alle zwischen 2013 und 2018 auf der Straße erlebt haben, die die Erfahrung des Nationalsozialismus oder des bolsonaristischen Post-Nazismus hervorbringt.”

Diese Art von Sprache führe, so Gherman, im Falle Brasiliens letztendlich zu einer Art „bolsonaristisch nationalsozialistischen Grammatik” – in Anlehnung an die zahlreichen Äußerungen des Kandidaten und späteren Präsidenten zu Quilombola-Gemeinschaften, Verschwörungstheorien und anderen Themen. „Er produziert ein neues Vokabular. Und dieses Vokabular erzeugt eine Bindung, die zu einem ideologischen Engagement führt. In den letzten fünf Jahren ist in Brasilien ein beispielloser Nazi-Wortschatz entstanden: Die Menschen hörten zu, suchten in sozialen Netzwerken danach und begannen, genauso zu denken”, erklärte Gherman.

„Unsere historische Aufgabe besteht darin, den durch den Nationalsozialismus manipulierten Menschen ein antifaschistisches Vokabular entgegenzusetzen. Dazu ist es notwendig, nicht nur in den Universitäten präsent zu sein, sondern auch in den Schulen, in den Gewerkschaften. Wir müssen zu den Anwohnervereinigungen gehen, mit den Familien sprechen, Verbindungen zu den evangelikalen Kirchen herstellen – die Opfer des Nazi-Vokabulars geworden sind, und nicht umgekehrt. Das rechtsextreme Projekt ist ein Projekt der Vergangenheit”, schloss der Professor seinen Vortrag ab.

Die Podiumsdiskussion des DWIH São Paulo fand am 25. Juli im Rahmen der SBPC-Jahrestagung an der Bundesuniversität Paraná (UFPR) in Curitiba statt. An der Debatte nahmen auch Monika Oberle, Professorin für Politikwissenschaft und Didaktik der Politik an der Georg-August-Universität Göttingen und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sowie Jochen Hellmann, Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) São Paulo und Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Brasilien teil. Das Gespräch fand unter der Leitung des SBPC-Vizepräsidenten Paulo Artaxo statt.