Wie deutsches Wirtschaftsdenken Brasiliens Entwicklungspolitik förderte

Professor der UFMG untersucht Parallelen zwischen deutschem und brasilianischem Wirtschaftsdenken Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Inwieweit hat das deutsche Wirtschaftsdenken, die Nationalökonomie, dazu beigetragen, die Grundlagen der brasilianischen Industrie und Wirtschaft nach der Ausrufung der Republik zu schaffen? Dies war eines der Studienobjekte der Dissertation von Professor Luiz Felipe Bruzzi Curi von der Bundesuniversität Minas Gerais (UFMG), wobei er einen Teil seiner Forschungsarbeit in Deutschland durchführte.

In der von der Stiftung zur Forschungsförderung des Bundesstaates São Paulo (Fapesp) unterstützten Forschungsarbeit zeigt Curi, dass das brasilianische Wirtschaftsdenken nach der Ausrufung der Republik in seiner Entstehung von deutschen Anschauungen beeinflusst wurde. Dem Forscher zufolge gibt es in den Reden des brasilianischen Finanzministers Ruy Barbosa viele Hinweise auf Adolph Wagner – einen deutschen Ökonomen, der mit der Logik des expansionistischen Denkens verbunden ist.

Um zu den Ergebnissen der in seiner Arbeit „Nationalökonomie in den Tropen: Deutsches Wirtschaftsdenken in Brasilien (1889-1945)” zusammenfassten Studien zu gelangen, recherchierte der Professor in Archiven und Bibliotheken in São Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre sowie in der Universität Hohenheim in Stuttgart.

Im nachfolgenden Interview für das DWIH São Paulo beschreibt Curi die akademischen Details seiner Forschung, die in der Ausgabe 2017-2018 von der Brasilianischen Vereinigung der Forscher für Wirtschaftsgeschichte (ABPHE) als „Beste Doktorarbeit” ausgezeichnet wurde.

Was hat Sie zu dieser Studie bewogen, die Parallelen zwischen deutschem und brasilianischem Wirtschaftsdenken aufzeigt?

Es war eine Reihe von Elementen.  In meiner Masterarbeit (Zwischen Geschichte und Wirtschaft: Das Wirtschaftsdenken von Roberto Simonsen) habe ich Faktoren des brasilianischen Wirtschaftsdenkens untersucht und bin damals auf Einflüsse des deutschen Denkens gestoßen.

Aber darüber hinaus habe ich selbst Wurzeln in der deutschen Kultur. Ein Zweig meiner Familie hat eine entfernte deutsche Abstammung, die bis in die Zeit Preußens (ein Gebiet, das Teile der heutigen Länder Lettland, Litauen, Estland und Polen umfasste) zurückreicht. In der Oberstufe war ich ein Austauschschüler in Deutschland in der Stadt Rostock, im Nordosten Deutschlands. Während dieses Austauschs bin ich einige Male nach Berlin gefahren, um den Vater meines Gastvaters zu besuchen, einen Historiker, der den Aufstieg des Nationalsozialismus studiert hat – eine ganz besondere Persönlichkeit. Er hat mir auf lockere und trotzdem klare Weise viel über die deutsche Geschichte beigebracht – er hatte den Krieg erlebt und nach seinem Ende in Ostdeutschland gelebt.

Als ich in meinem Masterstudium auf diese deutschen Einflüsse gestoßen bin, war das fast wie ein Wiedersehen. Ich habe erkannt, dass ich durch die Beherrschung der Sprache und die Kenntnis der deutschen Kultur einen Beitrag zu diesem Forschungsgebiet leisten konnte.

Warum haben Sie den Zeitraum von 1899 bis 1945 als Grundlage für die Studie gewählt?

Es war eine Zeit, in der dieses Wirtschaftsdenken deutschen Ursprungs, das ich Nationalökonomie nenne, weltweit großen Einfluss hatte. Es gibt sogar Arbeiten, die auf den Einfluss dieser Art der ökonomischen Denkweise auf Japan während seines Industrialisierungsprozesses hinweisen.

Einige Faktoren bestärken diese These, einer davon ist das damalige Ansehen der deutschen Universitäten. Berichten zufolge überquerten viele amerikanische Wissenschaftler in dieser Zeit den Atlantik, um in Deutschland zu promovieren.

In kurzen Worten, was charakterisiert die Denkweise der Nationalökonomie?

Diese Denkweise ist vielseitig, da gibt es viele Richtungen. Aber auf einen Nenner gebracht ist sie eine eher relativistische Denkweise im Vergleich zum klassischen Wirtschaftsdenken britischen Ursprungs, das hauptsächlich mit der Figur von Adam Schmidt in Verbindung gebracht wird. Dieses deutsche Wirtschaftsdenken hatte den Ansatz, Wirtschaft im Zusammenhang mit der Geschichte zu begreifen. Die sogenannte historistische Schule der Wirtschaft argumentierte, dass das Studium der Geschichte die Hauptquelle des Wissens über menschliches Handeln und wirtschaftliche Aspekte ist.

Welche Indizien gibt es ihren Studien zufolge für den Einfluss dieser Linie des deutschen Wirtschaftsdenkens auf die entwicklungspolitische Wirtschaftspolitik Brasiliens in der Ersten Republik?

Eine wichtige Persönlichkeit jener Zeit in Brasilien war der Jurist Ruy Barbosa, der damalige Finanzminister des Landes. Barbosa verfolgte eine Wirtschaftspolitik, bekannt als Wirtschaftsblase (Encilhamento), die wir expansionistisch nennen könnten. Er erhöhte die Geldmenge und die öffentlichen Ausgaben unter dem Vorwand, Industrieinvestitionen in Brasilien zu garantieren, eine Wirtschaftspolitik, die damals stark kritisiert wurde.

In seinen Reden vor dem brasilianischen Senat stützte sich Ruy Barbosa immer wieder auf die Argumente Adolph Wagners und bestand darauf, dass seine Expansionspolitik, die Idee, den Einfluss des brasilianischen Staates ständig zu erweitern, im zivilisatorischen Sinne und im Hinblick auf einen modernen Staat richtig war.

Gibt es auch Beispiele für die Anwendung der Nationalökonomie in der brasilianischen Regionalpolitik?

In Rio Grande do Sul war Francisco Simch eine der wichtigsten Persönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts. Simch kam in einer „deutschen” Stadt in diesem Bundesland zur Welt und wurde in den öffentlichen Ämtern, die er in der Kommunalpolitik bekleidete, zum Verfechter des deutschen Wirtschaftsgedankens.

Ein Beispiel: während des Ersten Weltkriegs stieg der Kohlepreis derart an, dass bestimmte Aktivitäten der nationalen Industrie, die von diesem Rohstoff abhängig waren, ernsthaft bedroht waren. Angesichts dieses Kontexts meinte Simch, der Staat solle den Kohlepreis regulieren oder alternative Quellen für Kohle suchen. Zur Untermauerung dieser Argumentation verwendete er den deutschen Wirtschaftsgedanken, dass der Staat in der Regel zwar nicht in die Preise eingreifen sollte, aber in extremen Situationen, wie im oben genannten Fall, eine Ausnahme gemacht werden müsse.

Ich finde diese eher relativistischen deutschen Gedankengänge insofern interessant, weil wir mit ihnen nicht aufhören müssen, an die Vorteile der freien Marktwirtschaft zu glauben, aber trotzdem anerkennen, dass in bestimmten Situationen dringende Eingriffe sinnvoll sind.

Warum haben Sie sich für die Durchführung dieser Studie für die Universität Hohenheim als Standort in Deutschland entschieden?

Ich fühlte eine große Nähe zu Professor Harald Hagemann, einem Wissenschaftler auf diesem Gebiet des deutschen Wirtschaftsdenkens.  Hagemann führte auch wichtige Studien zur Frage der Emigration deutscher Forscher, insbesondere Ökonomen, in der Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus durch (ein Aspekt, der auch in meiner Arbeit angeschnitten wird). In seinen Studien thematisiert er die Folgen des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland aus wissenschaftlicher Sicht. Der Professor zeigt, dass dieser Braindrain – viele erhielten später den Nobelpreis, wenn nicht die Auswanderer selbst, dann die Kinder dieser Auswanderern – eine Zäsur in der Entwicklung der deutschen Wissenschaft darstellte.

Denken Sie darüber nach, die Forschung weiterzuführen, zum Beispiel in einem Postdoktorat?

Meine Geschichte mit Deutschland reicht weit zurück und ich denke tatsächlich daran, diese Einflüsse des deutschen Wirtschaftsdenkens zu vertiefen und weiterzuentwickeln. Es gibt bereits Hinweise darauf, dass die Nationalökonomie auch andere lateinamerikanische Länder beeinflusst hat.

Einmal abgesehen von Ihrem Forschungsgebiet: Sie kennen das brasilianische und deutsche akademische Umfeld gut, welche Beiträge können sie gegenseitig leisten?

Die deutsche Wissenschaftskarriere ist sehr gradlinig, eine Art Leiter, die nach oben führt, zudem genießt ein Forscher in der deutschen Wissenschaftsgesellschaft einen hohen Stellenwert, was in Brasilien nicht der Fall ist.

Interessant finde ich auch die Lehrstuhlkultur in Deutschland (eine Art Festanstellung für den Leiter des Lehrstuhls). Auf dem Lehrstuhl gibt es einen ordentlichen Professor und einige Assistenzprofessoren und Forscher – es ist ein kleines Team, das eine interessante Synergie aufweist, im Gegensatz zu den riesigen Departments in Brasilien mit Dutzenden von Professoren. Aber hier muss ich auch die negative Seite des Lehrstuhls erwähnen, er ist sehr personenbezogen. Zum Beispiel wurde der Lehrstuhl, an dem ich bei Professor Hagemann in Deutschland studiert habe, nach dessen Pensionierung aufgelöst, das heißt, es gibt keine Garantie dafür, dass die anderen Professoren die gleiche Forschungsrichtung fortsetzen werden. In Brasilien bildet das Department eine thematische Forschungsgruppe mit mehreren Professoren, sie konzentriert sich nicht auf einen einzelnen Professor.

Ich glaube auch, dass es eine gute Idee wäre, etwas von der Lockerheit unseres akademischen Umfelds an die deutschen Universitäten zu bringen. Der förmliche Umgang in Deutschland schreckt uns ab, wir müssen Professoren immer mit „Sie“ ansprechen und das nimmt uns etwas von der in Brasilien üblichen Spontanität, was meiner Meinung im akademischen Umfeld eher stört.