„Brasilien bietet hervorragende Voraussetzungen für Kooperationen“

Jochen Hellmann © Iris Maurer

Dr. Jochen Hellmann, Direktor des DWIH São Paulo, spricht im Interview über das Jubiläumsjahr 2022, die zuletzt enorm gestiegene Bedeutung Brasiliens als Partner und nachzuholendes Wissen auf deutscher Seite.

Herr Dr. Hellmann, wenn Sie auf das Jahr 2022 blicken, was gehört zu den wichtigsten Ereignissen für das DWIH São Paulo?

Da denke ich an gleich drei Ereignisse: das zehnjährige Jubiläum des DWIH in Sao Paulo, die Rückkehr zu Präsenzformaten und die Young Innovators Week Brazil, Letztere als nur ein Beispiel für ein neues Interesse an Brasilien und die Ausweitung unserer Aktivitäten in Richtung Entrepreneurship. Das Jubiläum war für uns ein Anlass, viele öffentlichkeitswirksame Aktionen durchzuführen. Diese haben uns auch deshalb viel Interesse beschert, weil zeitgleich der DAAD das 50-jährige Bestehen seiner Außenstelle in Brasilien feierte. Das hat für viel Aufmerksamkeit in Brasilien gesorgt. Hinzu kommt, dass wir mit dem Ausklingen der Pandemie zu Empfängen von Angesicht zu Angesicht einladen und auch Veranstaltungen mit guten Hygienekonzepten wieder in Präsenz durchführen konnten. Und bereits zu unserem Jubiläumsempfang im Februar 2022 sind sehr viele Menschen gekommen.

Weshalb sind Präsenzformate für das DWIH São Paulo so wichtig?

In ganz Lateinamerika sind physische Begegnungen wesentlich wichtiger als in vielen anderen Regionen der Welt. Dies sollte man wirklich über Brasilien wissen. Es ist natürlich grundsätzlich überall in der Wissenschaft wichtig, dass man sich kennt, aber in der Latino-Kommunikationskultur spielt der persönliche Kontakt eine besondere Rolle. Dass wir wieder Präsenzformate hatten, war also ein wichtiger Punkt und hat Impulse für die Reaktivierung der DWIH-Aktivitäten gebracht.

Was war bedeutsam an der Young Innovators Week Brazil?

Das war etwas Neues für uns. Zehn junge deutsche Start-up-Gründerinnen und Gründer kamen nach Brasilien, um zu verstehen, wie der hiesige Markt funktioniert. Daran ist mir strategisch etwas sehr wichtig: Von je her ist es Aufgabe der DWIH, im Sitzland ein Schaufenster für die deutsche, wirtschaftlich orientierte Forschung oder forschenden Wirtschaft zu sein. Aber langfristig gilt es, auch die Informationen über Brasilien in Deutschland zu verbessern. Denn bezüglich des gegenseitigen Wissens übereinander existiert eine Asymmetrie. Nach allem, was ich beobachten kann, wissen die Menschen in Lateinamerika viel mehr über Deutschland als die Menschen in Deutschland über Lateinamerika. Diese Asymmetrie verhindert die Reziprozität der gegenseitigen Beziehungen. Wenn ich auf Augenhöhe kooperieren will, muss das Wissen über die Partner ungefähr übereinstimmen. Das Problem wird das DWIH São Paulo nicht im Alleingang lösen, aber ich bin froh über jeden Beitrag, den wir leisten können, damit das Wissen der forschenden Menschen in Deutschland über Brasilien und Lateinamerika zunimmt.

Welches Wissen über Brasilien möchten Sie aus strategischen Gründen deutlich bekannter machen?

Zum einen hat Brasilien hervorragende Voraussetzungen für Kooperationen, gerade im Bereich des DWIH-Schwerpunktthemas 2022 „Nachhaltige Innovationen“, was wir unter anderem in Niterói auf dem Symposium zu Nachhaltiger Entwicklung und mit einer Online-Veranstaltung zu Grünem Wasserstoff verdeutlichen konnten. Nachhaltigkeit ist in Brasilien 2022 im Wahlkampf vor den Präsidentschaftswahlen sowie erst recht durch den erfolgten Regierungswechsel das ganz große Thema geworden. Das ist strategisch für das DWIH São Paulo wichtig, denn Brasilien ist enorm weit fortgeschritten im Hinblick auf die Gewinnung von Energie aus erneuerbaren Quellen – deutlich weiter als Deutschland. Natürlich sind auch die Voraussetzungen, zum Beispiel für die wirtschaftliche Gewinnung von Solarenergie, nicht die gleichen. Deutschland hat eben keine zwölf Stunden Sonne am Tag. Brasilien aber kann den ganz überwiegenden Teil des elektrischen Stroms heute schon durch erneuerbare Energien decken und vermutlich auch einen Überschuss an Energie aus erneuerbaren Quellen produzieren und zukünftig Grünen Wasserstoff in Länder wie Deutschland exportieren. Hier besteht Potenzial für weitere Kooperationen zwischen Deutschland und Brasilien – vor allem seit Brasilien unter seiner neuen Regierung für deutsche Forschung, Wirtschaft und Politik wieder auf dem Radar ist.

Was halten Sie darüber hinaus in Brasilien für strategisch entscheidend?

Es mag erstaunlich klingen, aber eine Grundbedingung für Kooperationen und die Erschließung eines so riesigen Marktes wie Lateinamerika oder Brasilien ist – und das versteht man in Deutschland vielleicht noch nicht genug – Mehrsprachigkeit. Die englische Sprache allein reicht hier oftmals nicht aus. Wenn wir uns noch einmal vergegenwärtigen, wie zentral der persönliche Austausch hierzulande ist, dann ist auch klar, dass die persönliche Kommunikationsebene mit Englisch allein vielfach nicht richtig funktioniert. Weil jedes DWIH die regionalen Bedingungen im Blick haben muss, achten wir in unserer Arbeit daher stets auf eine gleichberechtigte Verwendung von Englisch, Portugiesisch und Deutsch.

Interview: Bettina Mittelstraß